Krise der Sozialdemokratie: Wähleranalyse widerlegt das gängige Narrativ
In vielen westeuropäischen Ländern haben sozialdemokratische Parteien im letzten Jahrzehnt einen grossen Teil ihrer Wähler*innen verloren. Eine gängige Erklärung dafür ist eine Abwanderung der Wähler*innen aus der Arbeiterschicht hin zur radikalen Rechten. Eine am Zentrum für Demokratie Aarau erstellte Studie stellt diese These infrage und findet andere Erklärungen für den Wählerschwund der Sozialdemokratie.
Die radikale Rechte ist nicht die neue Heimat ehemaliger sozialdemokratischer Wähler*innen. So lautet das zentrale Ergebnis der gerade erschienenen Studie zum Wettbewerb zwischen sozialdemokratischen und radikal rechten Parteien in Westeuropa. Sie widerspricht damit einem gängigen Narrativ der momentanen Krise sozialdemokratischer Parteien, wonach diese besonders Arbeiter*innen verloren haben und diese nun die radikale Rechte unterstützen.
In diesem Zusammenhang betont die Studie die zunehmende Diversität der Arbeiterklasse in Westeuropa. Diese ist im Westeuropa des 21. Jahrhunderts kein monolithischer Block weisser Männer mit autoritären und nationalistischen Einstellungen. In Fragen wie LGBTQ*-Rechten und Zuwanderung vertritt ein grosser Teil der Arbeiterklasse progressive Positionen. Rechtsradikale Parteien gewinnen zwar überproportional mehr Unterstützung von Wähler*innen aus der Arbeiterklasse, sollten aber keinesfalls als neue Arbeiterparteien charakterisiert werden.
Daten aus unterschiedlichen Quellen und aus verschiedenen Ländern in Westeuropa zeigen, dass nur ein kleiner Teil der westeuropäischen Arbeiterklasse die radikale Rechte unterstützt. Zudem zählte nur ein kleiner Teil der heutigen radikal rechten Wählerschaft zuvor zur Anhängerschaft sozialdemokratischer Parteien. Sozialdemokratische Parteien haben die meisten Wähler*innen an Grüne Parteien und christdemokratische oder konservative Parteien verloren. Überproportional hoch sind die Stimmenverluste sozialdemokratischer Parteien zudem eher in der gebildeten Mittelschicht.
Den grünen und sozialliberalen Parteien gelingt es besonders gut, diese Wählergruppe für sich zu gewinnen, indem sie vor allem bezüglich der kulturellen Dimension progressivere Positionen anbieten als sozialdemokratische Parteien. Sozialdemokratische Parteien laufen Gefahr, dass sich diese Entwicklung weiter verschärft, wenn sie sich linksnationalistische Strategien zu eigen machen – wenn sie also bei gesellschaftspolitischen Fragen und gerade der Migration nach rechts schwenken.
Experimentelle Daten und Befragungsdaten zeigen, dass potenzielle sozialdemokratische Wähler*innen besonders positiv auf eine Kombination aus ökonomisch linken und gesellschaftspolitisch progressiven Positionen reagieren. Es ist unwahrscheinlich, dass sozialdemokratische Parteien in einer sich immer weiter fragmentierenden politischen Landschaft zu alter Stärke zurückkehren werden können. Eine Kombination aus alt-linken und neu-linken Strategien ist allerdings essentiell damit diese Parteien neue Wählerschichten an sich binden können.
Die Studie
Tarik Abou-Chadi, Reto Mitteregger, Cas Mudde: «Verlassen von der Arbeiterklasse? Die elektorale Krise der Sozialdemokratie und der Aufstieg der radikalen Rechten.» Friedrich-Ebert-Stiftung, 2021. (Link zum PDF)
Auskünfte
Tarik Abou-Chadi: tarik.abou-chadi@zda.uzh.ch