Das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union (EU) und der zunehmende Einfluss des Unionsrechts auf das schweizerische Recht prägen seit der Ablehnung des EWR-Beitritts der Schweiz 1992, über den Abschluss der Bilateralen I 1999 und der Bilateralen II 2004 bis zu den aktuellen Verhandlungen über ein Institutionelles Abkommen die rechtswissenschaftliche Diskussion. Nichtsdestotrotz ist das Phänomen der zunehmenden «Europäisierung» der schweizerischen Rechtsordnung rechtlich allenfalls bereichsspezifisch, nicht aber umfassend untersucht und systematisiert worden. Es fehlt insbesondere eine Analyse, inwieweit sich die Entscheidungs- und Willensbildungsverfahren in der schweizerischen Demokratie unter dem zunehmenden Einfluss des EU-Rechts gewandelt haben.
Die einschlägigen Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen in Bund und Kantonen wurden zwar formell nicht angepasst, die Verfahren der parlamentarischen und der direktdemokratischen Rechtsetzung sind aber stetigen Einflüssen von Seiten des Unionsrechts unterworfen. Das Projekt basiert auf einer Querschnittsbetrachtung, bei der nicht die spezifischen Auswirkungen der sektoriellen Abkommen auf die Rechtslage in den einzelnen Bereichen analysiert werden, sondern der Einfluss des Unionsrechts auf die klassischen Mechanismen der demokratischen Rechtsetzung untersucht wird. Drei paradigmatische Konstellationen bilden den Fokus der Unterprojekte: 1. Die Rechtsetzung durch das Parlament bei der Übernahme von Unionsrecht zwecks Aktualisierung des Rechtsbestandes im Rahmen der bilateralen Verträge Schweiz-EU; 2. der autonome Nachvollzug von Unionsrecht durch Gesetzgebung und Rechtsprechung; 3. die Rechtsetzung und Rechtsanwendung von Bestimmungen, die auf potenziell mit dem Recht der bilateralen Verträge konfligierende Volksinitiativen zurückgehen. Methodisch erfolgt die Untersuchung in dem rechtswissenschaftlich ausgerichteten Projekt mithilfe einer umfassenden Auswertung der Gesetzgebungsmaterialien auf der Ebene des Bundes und der Kantone sowie der Rechtsprechung des Bundesgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und kantonaler Gerichte. Das Ziel des Forschungsprojekts liegt darin, die Dynamik des europäischen Integrationsprozesses der Schweiz anhand der Einwirkungen des Unionsrechts auf die demokratischen Entscheidungsverfahren offenzulegen und mithilfe teilweise neu zu entwerfender beziehungsweise weiter zu entwickelnder Rechtsfiguren wie dem autonomen Nachvollzug zu systematisieren. Die Europäisierung bewirkt mutmasslich auf der einen Seite, dass das politische Willensbildungsverfahren mittlerweile in verschiedenen Bereichen durch Vorgaben des Unionsrechts geprägt wird. Auf der anderen Seite lässt sich ansatzweise bereits feststellen, dass Parlamente, Stimmberechtigte und Gerichte inzwischen rechtliche Verfahren und Instrumente hervorgebracht haben, um mit politischen Spielräumen und deren Grenzen konstruktiv umzugehen. Vertiefend sollen für einzelne Entscheidungsverfahren spezifische Erkenntnisse gewonnen werden. Teilziele des Forschungsprojekts bestehen darin, die politischen Spielräume bei der Übernahme von Unionsrecht durch das Parlament und die Rolle der Gerichtsbarkeit im Rahmen des autonomen Nachvollzugs zu analysieren.