Nationale und kantonale Volksabstimmungen im Vergleich
«The World of Referendums: 2024 Edition» untersucht Schweizer Volksabstimmungen auf nationaler und kantonaler Ebene über die Zeit. Der Bericht basiert auf der Referendum Database (RDB) des Zentrums für Demokratie Aarau, die Abstimmungen weltweit erfasst und vergleichbar macht.
Die Kantone werden abstimmungsmüde
Abbildung 1: Die Zahl der kantonalen Volksabstimmungen ist rückläufig. Es scheint, dass die Kantone abstimmungsmüde werden. Die Gründe für diese Entwicklung sind aber noch unklar.
- Obligatorische Referenden: Seit den 1970ern nimmt die Zahl der obligatorischen Referenden in den Kantonen kontinuierlich ab. Obligatorischen Referenden machen einen Grossteil der Volksabstimmungen auf kantonaler Ebene aus (rund 60% seit 1970). Daher ist auch die Gesamtzahl der kantonalen Volksabstimmungen gesunken.
- Fakultative Referenden: Die Zahl der fakultativen Referenden ist seit den 1970ern zunächst relativ konstant geblieben, bzw. ab den 2000ern leicht angestiegen. Seit einigen Jahren zeichnet sich jedoch auch hier ein abnehmender Trend hin zum Stand von 1970 ab.
- Gegenvorschläge: Gegenvorschläge zu kantonalen Volksinitiativen blieben lange Zeit konstant, bis sie zusammen mit der Zahl der Volksinitiativen in den 2010er Jahren stark zugenommen haben. Heute nähert sich die Zahl der Gegenvorschläge wieder dem Stand von 1970 an.
- Volksinitiativen: Gegenüber 1970 war die Zahl der kantonalen Volksinitiativen in den 1980ern und 1990ern zunächst deutlich höher. Nach einem kurzen Rückgang in den 2000ern erreichte die Zahl der kantonalen Volksabstimmungen in den 2010er Jahren einen Höhepunkt. Seither ist die Zahl der Volksinitiativen wieder auf einem ähnlichen Niveau wie in den 1980er und 1990er Jahren.
Abb. 1: Entwicklung kantonaler Volksabstimmungen über die Zeit, 1970-2024 (1970 = 100%), geglättet. (Quelle: RDB)
Die Kantone leben die Direkte Demokratie unterschiedlich
Gleiche Instrumente, unterschiedliche Anwendung: Zwar bedienen sich die Kantone aus dem gleichen Werkzeugkasten direktdemokratischer Instrumente, in der Praxis gibt es jedoch grosse Unterschiede zwischen den Kantonen. Je nach Wohnort (er)leben Schweizer Bürgerinnen und Bürger stark unterschiedliche Ausprägungen der direkten Demokratie. Dies zeigt sich sowohl in der Anzahl Abstimmungen nach Kanton als auch im Typus der Abstimmungen.
Anzahl Volksabstimmungen
Abbildung 2: Zürich ist Spitzenreiter mit rund 600 Abstimmungen seit 1970, gefolgt von nationalen Abstimmungen, Basel Landschaft und Solothurn. Mit knapp 300 Abstimmungen liegt der Kanton Aargau im oberen Mittelfeld. Am unteren Ende der Skala ist mit rund 80 Abstimmungen der Jura als jüngster Schweizer Kanton anzutreffen, gefolgt von Freiburg und Waadt mit je rund 120 Abstimmungen. Am wenigsten an der Urne abgestimmt haben die ehemaligen Landsgemeinde-Kantone Nidwalden, Obwalden und Appenzell Ausserrhoden. Die beiden Landsgemeinde-Kantone Appenzell Innerrhoden und Glarus sind in der Grafik nicht aufgeführt.
Abb. 2: Anzahl Volksabstimmungen national und kantonal (ohne Landsgemeinde-Abstimmungen), 1970-2024. (Quelle: RDB)
Typus der Volksabstimmung
Gleichzeitig unterscheiden sich die Kantone bezüglich der verwendeten Abstimmungstypen stark:
- Auf nationaler Ebene werden rund zwei Drittel aller Abstimmungen über Unterschriftensammlungen ausgelöst. Zu je einem Drittel sind dies Volksinitiativen und fakultative Referenden. Der restliche Drittel sind obligatorische Referenden oder Gegenvorschläge.
- Auf kantonaler Ebene wird nur rund ein Drittel der Volksabstimmungen über Unterschriftensammlungen ausgelöst. Die übrigen zwei Drittel der kantonalen Volksabstimmungen bilden 1 Landsgemeinde-Abstimmungen sind in der RDB nur unvollständig erfasst. Deshalb fehlen die Kantone Appenzell Innerrhoden und Glarus vollständig, da diese zur direktdemokratischen Entscheidfindung primär Landsgemeinden nutzen. Für Nidwalden sind Volksabstimmungen ab 1997 erfasst, für Appenzell Ausserrhoden ab 1998 und für Obwalden ab 1999. obligatorische Referenden, Gegenvorschläge und Exekutiv-/Legislativreferenden, welche keine Unterschriftensammlung benötigen.
- Abbildung 3: Zwischen den Kantonen zeigen sich grosse Unterschiede im Abstimmungstypus. Diese lassen sich anhand des Anteils an Volksinitiativen an der Gesamtzahl der Volksabstimmungen in einem Kanton veranschaulichen. Die Kantone Waadt (40%) und Nidwalden (34%) haben den höchsten Anteil an Volksinitiativen. Mit 17% bewegt sich der Kanton Aargau im Mittelfeld. Den niedrigsten Anteil haben demgegenüber das Wallis und der Kanton Graubünden mit je 5%.
Abb. 3: Anteil Referendumstypen ausgewählter Kantone, 1970/1997-2024. (Quelle: RDB)
Erklärungsansätze
- Veränderungen über die Zeit: Die Abnahme obligatorischer Referenden auf kantonaler Ebene könnte auf kantonale Verfassungsänderungen zurückzuführen sein. Dies müsste jedoch vertieft untersucht werden, ebenso die Veränderungen bei der Anzahl der anderen Abstimmungstypen auf kantonaler Ebene.
- Unterschiede Bund-Kantone: Generell wird in den meisten Kantonen weniger abgestimmt als auf Bundesebene. Aus Sicht der Autor:innen liegt dies daran, dass die meisten Kantone höhere Anforderungen an das Verhältnis von Unterschriftenzahl zur Anzahl Stimmberechtigten stellen als der Bund. Dies erschwert die Lancierung von Volksinitiativen und fakultativen Referenden. Ebenfalls ist das Interesse der Bevölkerung an kantonalen Vorlagen tendenziell tiefer, was wiederum die Unterschriftensammlung erschwert.
- Unterschiede zwischen den Kantonen: Die Kantone nutzen direktdemokratische Instrumente auf unterschiedliche Weise. Aus Sicht der Autor:innen ist dies auf die jeweilige Kantonsverfassung zurückzuführen. So sind zum Beispiel in der Deutschschweiz die direktdemokratischen Instrumente vielfältiger als in der Romandie oder im Tessin. Ebenfalls sind in der Deutschschweiz die Unterschriftenhürden tendenziell niedriger als in der Romandie oder im Tessin.
- Werkzeugkasten der Direkten Demokratie: Als verfassungsrechtliche Vorgabe des Bundes müssen alle Kantone das obligatorische Verfassungsreferendum und die Volksinitiative auf Teil- oder Totalrevision ihrer Verfassung vorsehen. Darüber hinaus sind die Kantone in der Nutzung des direktdemokratischen Werkzeugkastens frei:
- Sämtliche Kantone kennen das obligatorische und/oder das fakultative Finanzreferendum, welches auf Bundesebene nicht existiert. Das Finanzreferendum unterstellt Ausgaben ab einer gewissen Höhe und/oder Dauer der Zustimmung des Volkes.
- Rund die Hälfte der Kantone kennt neben dem obligatorischen Verfassungsreferendum auch das obligatorische Gesetzesreferendum. Das heisst, dass zusätzlich zu Verfassungsänderungen auch gewisse Gesetzesänderungen einer obligatorischen Abstimmung unterstehen.
- In einigen Kantonen sind zudem auch allgemeinverbindliche Parlamentsbeschlüsse und Parlamentsverordnungen dem fakultativen Referendum unterstellt.
- In einigen Kantonen kann zudem das Parlament ein Referendum lancieren.
Weiterführende Ressourcen
Bericht
Ezzaini, Juri, Jonas Wüthrich, Salim Brüggemann, Kymani Koelewijn, Gianluca Sorrentino, Robin Gut, and Uwe Serdült. «The World of Referendums: 2024 Edition.» Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau, 30. Aarau: Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), 2024. Der Bericht und der Datensatz sind auf https://report.rdb.vote/ respektive https://c2d.ch/ abrufbar.
Die Referendum Database RDB
Der Bericht «The World of Referendums: 2024 Edition» basiert auf Daten der Referendum Database (RDB). Die Datenbank wurde 1994 an der Universität Genf gegründet. Sie beinhaltet wichtige Kennzahlen zu allen nationalen Volksabstimmungen weltweit, sowie eine wachsende Anzahl subnationaler Volksabstimmungen. Die zusätzlichen institutionellen Variablen zu den jeweiligen Staaten sowie interaktive Grafiken machen die RDB zu einem wertvollen Instrument für Forscher:innen und interessierte Bürger:innen. Ein interdisziplinäres Team aus Jurist:innen und Politikwissenschaftler:innen am Zentrum für Demokratie Aarau bewirtschaftet die RDB und entwickelt sie laufend weiter. Periodisch werden weitere Berichte veröffentlicht.
Über das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA)
Das Zentrum für Demokratie Aarau ist ein wissenschaftliches Forschungszentrum, das von der Universität Zürich, der Fachhochschule Nordwestschweiz, dem Kanton Aargau und der Stadt Aarau getragen wird. Es betreibt Grundlagenforschung und befasst sich mit aktuellen Fragen zur Demokratie – regional, national und weltweit: www.zdaarau.ch
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Projektleiter «The World of Referendums: 2024 Edition»
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