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Nationale und kantonale Volksabstimmungen im Vergleich

«The World of Referendums: 2024 Edition» untersucht Schweizer Volksabstimmungen auf nationaler und kantonaler Ebene über die Zeit. Der Bericht basiert auf der Referendum Database (RDB) des Zentrums für Demokratie Aarau, die Abstimmungen weltweit erfasst und vergleichbar macht.

Die Kantone werden abstimmungsmüde

Abbildung 1: Die Zahl der kantonalen Volksabstimmungen ist rückläufig. Es scheint, dass die Kantone abstimmungsmüde werden. Die Gründe für diese Entwicklung sind aber noch unklar.

  • Obligatorische Referenden: Seit den 1970ern nimmt die Zahl der obligatorischen Referenden in den Kantonen kontinuierlich ab. Obligatorischen Referenden machen einen Grossteil der Volksabstimmungen auf kantonaler Ebene aus (rund 60% seit 1970). Daher ist auch die Gesamtzahl der kantonalen Volksabstimmungen gesunken.
  • Fakultative Referenden: Die Zahl der fakultativen Referenden ist seit den 1970ern zunächst relativ konstant geblieben, bzw. ab den 2000ern leicht angestiegen. Seit einigen Jahren zeichnet sich jedoch auch hier ein abnehmender Trend hin zum Stand von 1970 ab.
  • Gegenvorschläge: Gegenvorschläge zu kantonalen Volksinitiativen blieben lange Zeit konstant, bis sie zusammen mit der Zahl der Volksinitiativen in den 2010er Jahren stark zugenommen haben. Heute nähert sich die Zahl der Gegenvorschläge wieder dem Stand von 1970 an.
  • Volksinitiativen: Gegenüber 1970 war die Zahl der kantonalen Volksinitiativen in den 1980ern und 1990ern zunächst deutlich höher. Nach einem kurzen Rückgang in den 2000ern erreichte die Zahl der kantonalen Volksabstimmungen in den 2010er Jahren einen Höhepunkt. Seither ist die Zahl der Volksinitiativen wieder auf einem ähnlichen Niveau wie in den 1980er und 1990er Jahren.

Abb. 1: Entwicklung kantonaler Volksabstimmungen über die Zeit, 1970-2024 (1970 = 100%), geglättet. (Quelle: RDB)

Die Kantone leben die Direkte Demokratie unterschiedlich

Gleiche Instrumente, unterschiedliche Anwendung: Zwar bedienen sich die Kantone aus dem gleichen Werkzeugkasten direktdemokratischer Instrumente, in der Praxis gibt es jedoch grosse Unterschiede zwischen den Kantonen. Je nach Wohnort (er)leben Schweizer Bürgerinnen und Bürger stark unterschiedliche Ausprägungen der direkten Demokratie. Dies zeigt sich sowohl in der Anzahl Abstimmungen nach Kanton als auch im Typus der Abstimmungen.

Anzahl Volksabstimmungen

Abbildung 2: Zürich ist Spitzenreiter mit rund 600 Abstimmungen seit 1970, gefolgt von nationalen Abstimmungen, Basel Landschaft und Solothurn. Mit knapp 300 Abstimmungen liegt der Kanton Aargau im oberen Mittelfeld. Am unteren Ende der Skala ist mit rund 80 Abstimmungen der Jura als jüngster Schweizer Kanton anzutreffen, gefolgt von Freiburg und Waadt mit je rund 120 Abstimmungen. Am wenigsten an der Urne abgestimmt haben die ehemaligen Landsgemeinde-Kantone Nidwalden, Obwalden und Appenzell Ausserrhoden. Die beiden Landsgemeinde-Kantone Appenzell Innerrhoden und Glarus sind in der Grafik nicht aufgeführt.

Abb. 2: Anzahl Volksabstimmungen national und kantonal (ohne Landsgemeinde-Abstimmungen), 1970-2024. (Quelle: RDB)

Typus der Volksabstimmung

Gleichzeitig unterscheiden sich die Kantone bezüglich der verwendeten Abstimmungstypen stark:

  • Auf nationaler Ebene werden rund zwei Drittel aller Abstimmungen über Unterschriftensammlungen ausgelöst. Zu je einem Drittel sind dies Volksinitiativen und fakultative Referenden. Der restliche Drittel sind obligatorische Referenden oder Gegenvorschläge.
  • Auf kantonaler Ebene wird nur rund ein Drittel der Volksabstimmungen über Unterschriftensammlungen ausgelöst. Die übrigen zwei Drittel der kantonalen Volksabstimmungen bilden 1 Landsgemeinde-Abstimmungen sind in der RDB nur unvollständig erfasst. Deshalb fehlen die Kantone Appenzell Innerrhoden und Glarus vollständig, da diese zur direktdemokratischen Entscheidfindung primär Landsgemeinden nutzen. Für Nidwalden sind Volksabstimmungen ab 1997 erfasst, für Appenzell Ausserrhoden ab 1998 und für Obwalden ab 1999. obligatorische Referenden, Gegenvorschläge und Exekutiv-/Legislativreferenden, welche keine Unterschriftensammlung benötigen.
  • Abbildung 3: Zwischen den Kantonen zeigen sich grosse Unterschiede im Abstimmungstypus. Diese lassen sich anhand des Anteils an Volksinitiativen an der Gesamtzahl der Volksabstimmungen in einem Kanton veranschaulichen. Die Kantone Waadt (40%) und Nidwalden (34%) haben den höchsten Anteil an Volksinitiativen. Mit 17% bewegt sich der Kanton Aargau im Mittelfeld. Den niedrigsten Anteil haben demgegenüber das Wallis und der Kanton Graubünden mit je 5%.

Abb. 3: Anteil Referendumstypen ausgewählter Kantone, 1970/1997-2024. (Quelle: RDB)

Erklärungsansätze

  • Veränderungen über die Zeit: Die Abnahme obligatorischer Referenden auf kantonaler Ebene könnte auf kantonale Verfassungsänderungen zurückzuführen sein. Dies müsste jedoch vertieft untersucht werden, ebenso die Veränderungen bei der Anzahl der anderen Abstimmungstypen auf kantonaler Ebene.
  • Unterschiede Bund-Kantone: Generell wird in den meisten Kantonen weniger abgestimmt als auf Bundesebene. Aus Sicht der Autor:innen liegt dies daran, dass die meisten Kantone höhere Anforderungen an das Verhältnis von Unterschriftenzahl zur Anzahl Stimmberechtigten stellen als der Bund. Dies erschwert die Lancierung von Volksinitiativen und fakultativen Referenden. Ebenfalls ist das Interesse der Bevölkerung an kantonalen Vorlagen tendenziell tiefer, was wiederum die Unterschriftensammlung erschwert.
  • Unterschiede zwischen den Kantonen: Die Kantone nutzen direktdemokratische Instrumente auf unterschiedliche Weise. Aus Sicht der Autor:innen ist dies auf die jeweilige Kantonsverfassung zurückzuführen. So sind zum Beispiel in der Deutschschweiz die direktdemokratischen Instrumente vielfältiger als in der Romandie oder im Tessin. Ebenfalls sind in der Deutschschweiz die Unterschriftenhürden tendenziell niedriger als in der Romandie oder im Tessin.
  • Werkzeugkasten der Direkten Demokratie: Als verfassungsrechtliche Vorgabe des Bundes müssen alle Kantone das obligatorische Verfassungsreferendum und die Volksinitiative auf Teil- oder Totalrevision ihrer Verfassung vorsehen. Darüber hinaus sind die Kantone in der Nutzung des direktdemokratischen Werkzeugkastens frei:
    • Sämtliche Kantone kennen das obligatorische und/oder das fakultative Finanzreferendum, welches auf Bundesebene nicht existiert. Das Finanzreferendum unterstellt Ausgaben ab einer gewissen Höhe und/oder Dauer der Zustimmung des Volkes.
    • Rund die Hälfte der Kantone kennt neben dem obligatorischen Verfassungsreferendum auch das obligatorische Gesetzesreferendum. Das heisst, dass zusätzlich zu Verfassungsänderungen auch gewisse Gesetzesänderungen einer obligatorischen Abstimmung unterstehen.
    • In einigen Kantonen sind zudem auch allgemeinverbindliche Parlamentsbeschlüsse und Parlamentsverordnungen dem fakultativen Referendum unterstellt.
    • In einigen Kantonen kann zudem das Parlament ein Referendum lancieren.

Weiterführende Ressourcen

Bericht

Ezzaini, Juri, Jonas Wüthrich, Salim Brüggemann, Kymani Koelewijn, Gianluca Sorrentino, Robin Gut, and Uwe Serdült. «The World of Referendums: 2024 Edition.» Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau, 30. Aarau: Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), 2024. Der Bericht und der Datensatz sind auf https://report.rdb.vote/ respektive https://c2d.ch/ abrufbar.

Die Referendum Database RDB

Der Bericht «The World of Referendums: 2024 Edition» basiert auf Daten der Referendum Database (RDB). Die Datenbank wurde 1994 an der Universität Genf gegründet. Sie beinhaltet wichtige Kennzahlen zu allen nationalen Volksabstimmungen weltweit, sowie eine wachsende Anzahl subnationaler Volksabstimmungen. Die zusätzlichen institutionellen Variablen zu den jeweiligen Staaten sowie interaktive Grafiken machen die RDB zu einem wertvollen Instrument für Forscher:innen und interessierte Bürger:innen. Ein interdisziplinäres Team aus Jurist:innen und Politikwissenschaftler:innen am Zentrum für Demokratie Aarau bewirtschaftet die RDB und entwickelt sie laufend weiter. Periodisch werden weitere Berichte veröffentlicht.

Über das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA)

Das Zentrum für Demokratie Aarau ist ein wissenschaftliches Forschungszentrum, das von der Universität Zürich, der Fachhochschule Nordwestschweiz, dem Kanton Aargau und der Stadt Aarau getragen wird. Es betreibt Grundlagenforschung und befasst sich mit aktuellen Fragen zur Demokratie – regional, national und weltweit: www.zdaarau.ch

Kontakt

Robin Gut
Projektleiter «The World of Referendums: 2024 Edition»
076 470 87 05
robin.gut@zda.uzh.ch

Masterstudiengang Fachdidaktik mit Vertiefungsrichtung Geschichte und Politische Bildung

Die Anmeldefrist für den Masterstudiengang Fachdidaktik mit Vertiefungsrichtung Geschichte und Politische Bildung läuft noch bis 30. November 2024!

Im Masterstudium Fachdidaktik, ein Joint Degree der Universität Basel und der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (PH FHNW), werden fünf Fachdidaktiken angeboten. Darunter auch die Vertiefungsrichtung Geschichte und Politische Bildung, welche von Monika Waldis, Direktionsvorsitzende des Zentrum für Demokratie (ZDA), geleitet wird.

Ein Ziel der Fachdidaktiken Geschichte und Politische Bildung ist es, das Interesse an Geschichte und politischen Fragestellungen zu fördern. Vertiefte historische und politische Kenntnisse und Kompetenzen sollen allen Individuen die Teilhabe an der Gesellschaft sichern. Fachdidaktik verbindet die theoretische Reflexion zu Inhalten mit Lehr- und Lernprozessen, empirischer Forschung und Weiterentwicklungen in der Praxis.

Jetzt informieren und bis zum 30. November 2024 für das Frühjahrsemester anmelden.

Save the Date! Aarauer Demokratietage 2025

3.-4. April 2025
Kultur- und Kongresshaus Aarau / Zentrum für Demokratie Aarau

Die nächsten Aarauer Demokratietage 2025 stehen unter dem Motto «Demokratie im Krieg: die Rolle der Schweiz». Für die Keynotes am Abendanlass konnten wir Pascale Baeriswyl, Schweizer Botschafterin bei den Vereinten Nationen in New York und Katja Gentinetta, Politikphilosophin und -beraterin & Redaktorin des Berichts der Studienkommission Sicherheitspolitik gewinnen.

Weitere Informationen laufend auf www.demokratietage-zda.ch

Bevölkerungsrat diskutiert Rezepte gegen steigende Gesundheitskosten

  • Der Bevölkerungsrat 2025 aus 100 zufällig ausgelosten Einwohnerinnen und
    Einwohnern der Schweiz trifft sich dieses Wochenende erstmals an der Universität
    Zürich
  • Die Teilnehmenden gewinnen am Startwochenende ein vertieftes Verständnis für
    das Thema „steigende Gesundheitskosten“ und legen einen Schwerpunkt für die
    weiteren Diskussionen fest
  • Das vom Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) koordinierte Forschungsprojekt der
    Universitäten Zürich und Genf untersucht, ob und wie Bevölkerungsräte
    demokratische Debatten bereichern

Die steigenden Gesundheitskosten zählen zu den drängendsten
Herausforderungen in der Schweiz. Mit Prämien, die in die Höhe schiessen, schliessenden
Spitälern und überlastetem Gesundheitspersonal ist die Gesundheitspolitik in der Krise –
Lösungen sind gefragt. An der Universität Zürich kommt an diesem Wochenende der
Bevölkerungsrat zusammen. Anlässlich dieses Auftakttreffens werden 100 zufällig
ausgeloste Teilnehmende aus der ganzen Schweiz mit unterschiedlichen Hintergründen und
Erfahrungen miteinander ins Gespräch kommen.


Der Bevölkerungsrat ist eine neuartige Möglichkeit für Bürgerinnen und Bürger, gemeinsam
gesellschaftlich wichtige Themen zu diskutieren und Lösungen auszuhandeln. Im Zentrum stehen
ganz normale Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz: Menschen jeden Alters, aus
verschiedensten Berufen und Landesteilen. In mehreren Wochenendveranstaltungen und
digitalen Treffen befassen sie sich vertieft mit der aktuellen Problematik der steigenden
Gesundheitskosten. Diese ausgeloste Gruppe bildet die Vielfalt an Perspektiven und Erfahrungen
aus der Gesellschaft ab und bringt so ihre eigenen Anliegen und Bedürfnisse in die Diskussion ein.


Grundversicherung, Spitäler oder Koordination der Versorgung?


Am Startwochenende erhalten die Teilnehmenden einen umfassenden Überblick über die
Funktionsweise und die Ziele des Bevölkerungsrats. Neben dem gegenseitigen Kennenlernen und
dem Einarbeiten in das Thema „steigende Gesundheitskosten“, legen die Teilnehmenden einen
Schwerpunkt für die weiteren Diskussionen fest. Dabei geht es darum, das Thema einzugrenzen
und zu bestimmen, was für den Bevölkerungsrat von besonderer Relevanz ist – etwa die
Grundversicherung, die Spitäler, die Mengenausweitung, die Koordination der Versorgung oder
die Gesundheitsförderung und Prävention.


Neuer Impuls in der Gesundheitspolitik


Das Forschungsprojekt untersucht, ob Bevölkerungsräte geeignet sind, wichtige gesellschaftliche
Debatten auszutragen. Gerade im Bereich der Gesundheitspolitik, wo die politische
Entscheidungsfindung oft stagniert, könnten Bevölkerungsräte neue Impulse geben. Die
Themenwahl für den Bevölkerungsrat erfolgte in einem transparenten und breit abgestützten
Prozess, der die Gesundheitskosten als besonders dringliches Thema identifizierte.

Prof. Dr. Daniel Kübler, Co-Initiator an der Universität Zürich, sagt dazu: «Mit dem Bevölkerungsrat
schaffen wir einen Raum, in dem die Bevölkerung direkt zu einem gesellschaftlich wichtigen
Thema Stellung beziehen kann. Besonders bei der Gesundheitspolitik brauchen wir Lösungen, die
die Interessen und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger berücksichtigen.»


Bevölkerungsrat verfasst Abschlussbericht mit Reformvorschlägen


Die Teilnehmerin und zweifache Mutter Anaïs Zingg (30) aus Zuzwil im Kanton St. Gallen zeigt sich
gespannt: «Ich freue mich darauf, zusammen mit Menschen aus der ganzen Schweiz über
steigende Gesundheitskosten zu diskutieren. Ein Thema, das uns alle betrifft. Hoffentlich können
wir als Bevölkerungsrat etwas bewirken.»

Der Bevölkerungsrat stellt seine Resultate im Frühling 2025 vor. Ein Abschlussbericht soll die Basis
für eine sachliche, öffentliche Debatte bilden und der Politik ein differenziertes Meinungsbild
liefern. Darin bereitet der Bevölkerungsrat Argumente zu verschiedenen Reformvorschlägen auf
und positioniert sich dazu.

Diese Form der Beteiligung schafft neue Räume für gesellschaftliche Debatten, um die Qualität der
öffentlichen Meinungsbildung und Debattenkultur zu stärken. Das könnte nicht nur in der
Gesundheitspolitik, sondern auch in weiteren gesellschaftlichen Bereichen von Bedeutung
werden.

Weiterführende Informationen: www.pnyx25.uzh.ch

Fotos Startwochenende: https://www.flickr.com/gp/200893765@N03/77z6315bw6
(werden am Wochenende laufend aktualisiert)

Kontakt:

  • Loïc Schwab, Kommunikationsverantwortlicher «Bevölkerungsrat 2025»,
    loic.schwab@zda.uzh.ch, 062 836 94 41

POLIS Nr. 14 «Die Maschine ist politisch. KI, Demokratie und Bildung»

Die neue Ausgabe des Magazins für Politische Bildung, POLIS, ist erschienen: «Die Maschine ist politisch. KI, Demokratie und Bildung»

Die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz sorgte in jüngster Vergangenheit für Aufsehen und wirft bedeutende Fragen auf, welche die demokratischen Grundwerte herausfordern: Welche Folgen haben die neuen technologischen Innovationen für aktuelle demokratische Systeme? Und wie kann eine demokratische Gesellschaft, die an der Förderung und nicht am Abbau demokratischer Prinzipien interessiert ist, damit umgehen?

Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Rolle der Schulen im Umgang mit diesen Entwicklungen. Wie werden KI-Anwendungen an heutigen Schulen genutzt? Mit welchen Facetten dieser Entwicklung muss sich die Politische Bildung auseinandersetzen? Und inwiefern ist dies aus einer demokratischen Perspektive relevant? Unsere Beiträge sollen zum Nachdenken und Diskutieren anregen.

Download (PDF)
POLIS Nr. 14 bestellen

Abstimmung verloren – Ist das höhere Budget der Gegenseite der Grund?

Wer für eine Abstimmungskampagne viel Geld ausgibt, wird stärker wahrgenommen. Nimmt man aber die subjektiv wahrgenommene Intensität einer Kampagne für Ja- oder Nein-Stimmende unter die Lupe, zeigt sich eine Verzerrung: Das Kampagnenbudget der Gegenseite wird zu hoch eingeschätzt. Wie es dazu kommt, zeigen Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt des Zentrums für Demokratie Aarau in Zusammenarbeit mit Année Politique Suisse.

Plakate und Inserate versuchen vor Abstimmungen die Schweizer Bürger:innen von Ja- oder Nein-Parolen zu den Vorlagen zu überzeugen. Doch wie nehmen Bürger:innen die Stärke und somit Wirksamkeit einer Abstimmungskampagne zu einem Thema war? Und enspricht diese sujektive Einschätzung dem objektiv messbaren Werbeaufwand? Das untersucht eine Auswertung im Rahmen des Forschungsprojekts «Direkte Demokratie Schweiz im 21. Jahrhunder (DDS21)» (siehe Box).

Budget schafft wirksame Kampagnen

Befragt man Bürger:innen, wie gut Abstimmungskampagnen wirken, stimmt ihre Einschätzung recht gut mit den messbaren Kriterien «Werbeausgaben» und «Inserateaufkommen» überein. Die Autoren der Auswertung halten fest: «Die Einschätzung der Intensität der Kampagnen kurz vor den Abstimmungen im März bzw. im Juni gleicht der messbaren tatsächlichen Intensität. In beiden Fällen schätzen die Befragten jene Werbekampagnen am intensivsten ein, die auch tatsächlich die grössten Budgets, bzw. das stärkste Inseratevolumen aufweisen (13. AHV-Rente bzw. Stromgesetz).»

Wenn man meint, der Gegner habe mehr Geld

Differenziert man jedoch die Wahrnehmung zwischen dem Ja- und Nein-Lager, tritt ein durchaus interessanterer Effekt zu Tage: die Überschätzung der Gegenseite. Befragt man die Bürger:innen, ob ihrer Meinung nach stärker für eine der Seiten geworben worden wurde, stimmen die objektiven Messgrössen weniger gut mit der subjektiven Wahrnehmung überein. Wer eine Vorlage angenommen hatte, schätzte in der Regel ein, dass das Nein-Lager eine intensivere Kampagne führte – und umgekehrt. Der eigene Abstimmungsentscheid beeinflusste somit die Wahrnehmung, wie stark die Kampagne der Gegenseite wirkt.

Eine mögliche Erklärung dieses Effekts könnte sein, dass aus psychologischer Perspektive die unterschiedliche Formulierung des Inhalts eine andere Bewertung zur Folge hatte (Framing-Bias). Interessanterweise greift ein ähnlicher Effekt unabhängig davon, ob ein Lager eine Abstimmung gewinnt oder verliert.  

Opfer oder Outsider?

Stimmt eine Person Ja und die Vorlage wird abgelehnt, führten dies die Befragten auf eine vermeintliche finanzielle Übermacht des gegnerischen Lagers zurück. Sich selbst als «Opfer» des höheren Budgets der Gegenseite zu sehen, kann ein Weg sein, um den «Stress» einer Abstimmungsniederlage zu verringern.

Abb. 1: Wie wird die Intensität von politischer Werbung bei Ja- und Nein-Stimmenden zur Abstimmungsvorlage 13. AHV-Rente beurteilt?

Wird die Vorlage angenommen, greift eher ein Outsider-Effekt: Auch dann gehen die Befürworter:innen (fälschlicherweise) davon aus, dass das gegnerische Lager mehr Geld zur Verfügung hatte als das eigene. Trotz der (vermeintlichen) Kampagnenübermacht der Gegenseite hat letztlich die eigene Stimme obsiegt. Die Zufriedenheit, die sich dabei einstellt, ist im Sinne von «Coping» ebenfalls Stress reduzierend.

Die Autoren der Auswertung halten zusammenfassend fest: «Auch wenn es sehr naheliegend scheint, dass die Intensität von Abstimmungskampagnen für den Ausgang direktdemokratischer Entscheidungen von Bedeutung ist, wissen wir erstaunlich wenig über die Wirkung politischer Werbung auf einzelne Individuen. Unsere Befunde legen nahe, dass Bürgerinnen und Bürger zwar ein gutes Gespür haben für die Intensität politischer Kampagnen im Allgemeinen, dass sie dieses aber trügt, wenn es darum geht, die Werbemacht des jeweiligen Ja- bzw. Nein-Lagers zu unterscheiden.»

Das Projekt «Direkte Demokratie Schweiz im 21. Jahrhundert (DDS21)»

Seit 2023 setzt sich das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierte Forschungsprojekt Direkte Demokratie Schweiz im 21. Jahrhundert (DDS21) zum Ziel, die Gründe der Beteiligung und der Stimmentscheide der Schweizer Bürgerinnen und Bürger nach jeder eidgenössischen Volksabstimmung zu untersuchen. Unter der Leitung des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA), das der Universität Zürich angegliedert ist, vereint DDS21 Mitglieder der acht universitären politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz sowie des Liechtenstein-Instituts.

Die in diesem Artikel verwendeten Daten stammen aus Erhebungen im Nachgang zu den Abstimmungen vom 3. März 2024 und 9. Juni 2024, in denen jeweils mehr als 1000 Personen befragt wurden nach ihrem Empfinden zur Intensität der Abstimmungskampagnen für die fünf Vorlagen: 13. AHV-Rente, Renten-Initiative, Prämien-Entlastungs-Initiative, Stromgesetz, Kostenbremse-Initiative, Stopp Impfpflicht. Verglichen wurden die Werbeausgaben und die Inserateaufkommen pro Initiative mit der eingeschätzten Intensität der Kampagne.

Weiterführende Ressourcen

Blogbeitrag auf der Plattform DeFacto:
Deutsch, Französisch, Italienisch
Projektwebseite: https://www.dds21.uzh.ch/de.html

Rückfragen

Prof. Dr. Marc Bühlmann, Direktor Année Politique Suisse
marc.buehlmann@unibe.ch, 079 354 88 79

Prof. Dr. Isabelle Stadelmann-Steffen, Institut für Politikwissenschaft Bern
isabelle.stadelmann@unibe.ch, 031 684 83 55

Prof. Dr. Daniel Kübler, Zentrum für Demokratie Aarau
daniel.kuebler@zda.uzh.ch, 078 815 67 60

Über das ZDA

Das Zentrum für Demokratie Aarau ist ein wissenschaftliches Forschungszentrum, das von der Universität Zürich, der Fachhochschule Nordwestschweiz, vom Kanton Aargau und von der Stadt Aarau getragen wird. Es betreibt Grundlagenforschung und befasst sich mit aktuellen Fragen zur Demokratie – regional, in der Schweiz und weltweit. www.zdaarau.ch

Über Année Politique Suisse

Année Politique Suisse (APS) bietet seit 1965 eine präzise, sachliche und konzentrierte Chronik der Entwicklungen in der Schweizer Politik und Gesellschaft. Wir folgen einem politischen Geschäft von seiner Lancierung bis hin zu einem allfälligen Volksentscheid und dessen Umsetzung, wir berichten über wichtige gesellschaftliche Kontroversen, synthetisieren praxisrelevante Studien und Berichte, verfolgen wegweisende Gerichtsurteile, Entwicklungen in der Parteilandschaft und vieles mehr. Ein zentrales Anliegen ist uns dabei die Einbettung aktueller Ereignisse in den zeithistorischen Kontext, denn aktuelle Ereignisse sind häufig lediglich Schlaglichter langwieriger, sich oft auch wiederholender Prozesse, die sich mit APS nachzeichnen und in einen grösseren Kontext einordnen lassen.

Darüber stellt APS zahlreiche Daten zur Schweizer Politik (z.B. swissvotes.ch) zur Verfügung und beteiligt sich an verschiedenen Politikwissenschaftlichen Forschungsprojekten mit Fokus auf die Schweiz. www.anneepolitique.swiss

Feedback und Diskussion

Wir freuen uns immer wieder über Ihre Rückmeldungen nach der Durchführung der Aarauer Demokratietage. Falls Sie uns gerne Ihr Feedback schicken möchten, dürfen Sie sich gerne an Mireille Braun (mireille.braun@zda.uzh.ch) wenden.

Wir sagen «Danke!»

Wir danken Ihnen herzlich, dass Sie uns an den Aarauer Demokratietagen 2024 besucht und mit uns viele Fragen und Aspekte zum Thema «Föderalismus und Demokratie» diskutiert haben. Wir freuen uns bereits auf die nächste Durchführung im 2025.